Ihre Eltern flüchteten aus der DDR und ließen sie als Kleinkind zurück: 15 Jahre lang lebte Beate Runge deshalb in der Psychiatrie im Krankenhaus West in Stralsund. Sie wurde als „nicht entwicklungsfähig“ abgestempelt. Jetzt, viele Jahre danach, kann sie darüber reden, was damals mit ihr geschehen ist – der Bericht eines Martyriums.
Vor ein paar Jahren zu Weihnachten nahm die Stralsunderin Beate Runge all ihren Mut zusammen und rief ihre Mutter in Baden-Württemberg an. Diese hatte ihre Tochter zwar geboren, aber als die Eltern 1957 aus der DDR flüchteten, ließen sie die damals zweijährige Tochter Beate und den dreijährigen Sohn Peter in der Rostocker Wohnung zurück. Die Kleinkinder wären fast verhungert. Erst fünf Tage später brach die Polizei die Tür auf und rettete die beiden. Die Eltern, im Westen angekommen, erklärten sie jedoch für tot.
Das Telefonat war das erste Gespräch zwischen Mutter und Tochter überhaupt. „Das war ganz komisch. Sie hatte so geplaudert, als würden wir uns schon immer kennen“, erinnert sich Beate Runge. „Meine Mutter hat von ihren Nachbarn erzählt und von ihren Krankheiten. Aber das wollte ich gar nicht hören. Entschuldigt hat sie sich nicht. Ich habe dann einfach aufgelegt.“ Seither haben die beiden nicht mehr miteinander gesprochen. Beate Runge hat ihre Mutter nur auf zwei Fotos gesehen. „Und da habe ich festgestellt, dass ich Ähnlichkeit mit ihr habe. Das gefällt mir gar nicht.“
Dokumentarfilm „Lievalleen“ von Schriftsteller Peter Wawerzinek
Die Suche nach der Mutter hat sie und ihren Bruder erst spät, dafür aber lange beschäftigt und tut es noch immer. Er, Peter Wawerzinek, mittlerweile gefeierter Schriftsteller und Ingeborg-Bachmann-Preisträger, hat darüber zusammen mit Steffen Sebastian einen Dokumentarfilm gedreht. Acht Jahre dauerten die Arbeiten. Der Filmklub Blendwerk zeigt „Lievalleen“ am Donnerstag, 4. November, 20 Uhr, in der Stralsunder Kulturkirche St. Jakobi. Eintritt: 5 Euro. Beate Runge wird dabei sein.
Die Zuschauer werden erfahren, wie unterschiedlich sich die Leben der Kinder entwickelt haben, welche Grausamkeiten sie ertragen mussten. Peter kam in die Obhut zweier Kinderheime und wurde adoptiert, als er elf Jahre alt war. Beate hingegen wurde in die psychiatrische Abteilung im Stralsunder Krankenhaus West gesteckt.
„15 verlorene Jahre“, sagt sie bitter. Das Personal belog sie – ihre Eltern seien tot, Geschwister habe sie keine. Außerdem wurde das Mädchen als „nicht entwicklungsfähig“ eingestuft. Ein Leben lang würde es auf fremde Hilfe angewiesen sein. Ein Stempel, der ihr Kindheit und Jugend raubte.
Arbeitstherapie? – „Das war Kinderarbeit“
Außer Lesen, Schreiben und Rechnen sei ihr nicht viel beigebracht worden. Stattdessen musste sie schuften, seitdem sie elf Jahre alt war, erzählt sie. Zuerst abwaschen in der Großküche des Krankenhauses, dann putzen auf den Stationen. „Arbeitstherapie“ habe man das genannt, doch therapeutisch sei daran nichts gewesen. „Das war Kinderarbeit“, macht Beate Runge deutlich.
Zwischendurch gab es einen Moment der Hoffnung. Denn eine fremde Frau kam ins Krankenhaus, beschäftigte sich kurz mit ihr. Es war die Adoptivmutter ihres Bruders, wie sie später erfuhr. Als das Personal der Frau erzählte, dass Beate angeblich „nicht entwicklungsfähig“ sei, sah die Frau von einer Adoption des Mädchens wieder ab. So blieb Beate Runge in Stralsund und war weiter dem medizinischen Personal ausgesetzt.
„Schlafkur“ als Bestrafung: Sechs Wochen liegen
Einige Mitarbeiter seien nett gewesen, andere nicht. Sie erzählt, dass es „öfters mal Prügel“ gab und dass sie Tabletten bekam, ohne zu wissen, wofür oder wogegen die wirken sollten. „Die sahen aus wie kleine Murmeln.“ Sie berichtet auch, dass ihr ein Stationsarzt eine „Schlafkur“ verordnet habe, was zwar harmlos klingt, aber wie eine Folter gewesen sein muss.
„Ich habe mich einmal ordentlich aufgeregt. Worüber weiß ich nicht mehr. Daraufhin kam ich in ein Metallbett, über das ein Netz gespannt war, vorne und hinten zugeschnürt. Darin musste ich sechs Wochen liegen. Essen durfte ich im Sitzen und aufstehen konnte ich nur, wenn ich zur Toilette musste. Ansonsten gab es dreimal am Tag eine Spritze, um mich ruhig zu stellen. Das werde ich nie vergessen.“
Erst als 1971 das Personal wechselte, veränderte sich ihr Leben. „Die neue Schwester hat sich die Akten genauer angeschaut und festgestellt, dass da etwas nicht stimmt.“ Sie habe Beate gesagt, dass sie herausgefunden habe, dass es einen Bruder gebe. Die damals 15-Jährige war überrascht, verwirrt, geschockt. Zwei Jahre später folgte ihre Entlassung. „Ich habe erst mal alle Fotos von mir zerrissen. Ich wollte keine Erinnerungen haben, weil ich meine Kindheit gehasst habe. Außerdem sollte keiner wissen, dass ich hier war.“
Sie zog zu ihrem Bruder und seiner Adoptivfamilie nach Rerik. Doch als ihr Peter zur Armee ging, habe das die neue Mutter ausgenutzt. Beate sollte ständig alles putzen. „Da habe ich gedacht: ,Geht das schon wieder los’?“ Sie zog zurück nach Stralsund, heiratete zum ersten Mal, bekam einen Sohn und fing ausgerechnet in der Wäscherei des Krankenhauses West an zu arbeiten. „Ich hatte ja nichts anderes gelernt.“ Ihr gesamtes Berufsleben hat sie Wäsche gewaschen. Fast 40 Jahre lang.
Aufarbeitung durch den Film
Erst mit dem Beginn der Filmarbeiten 2012 fängt Beate Runge an, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Denn nach und nach kommt immer mehr ans Licht: Ihr Bruder Peter hat die Mutter aufgespürt. Die Eltern haben im Westen noch ein Kind bekommen – sie hat also noch eine Schwester. Nach der Trennung der Eltern bekam ihre Mutter sieben weitere Kinder, der Vater, er soll nun irgendwo in den USA leben, zwei. Zehn neue Mitglieder einer Familie, die sie nie hatte. „Ich bin meinem Bruder und Steffen Sebastian sehr dankbar, dass sie den Film gemacht haben.“
Sie lernen nun einander kennen. Gerade der Kontakt zu ihrer neuen Schwester Gabi und der Halbschwester Antje habe aus ihr einen neuen Menschen gemacht, erzählt Beate Runge und zeigt eine ausgedruckte E-Mail: „Wir wollen dich kennenlernen“, schrieb Antje und schickte ein Foto von sich, ihrem Mann und ihrem Sohn. „Wir sollten etwas planen.“ Das taten sie. Beate fuhr im Sommer nach Süddeutschland. Antje, Gabi, Peter und sie verstanden sich auf Anhieb.
Anfang Dezember will sie wieder runterfahren und einen Halbbruder kennenlernen. „Es ist sehr aufregend, aber auch anstrengend.“ Auch den Jahreswechsel will sie unten verbringen. „In den letzten 30 Jahren habe ich gar kein Silvester mehr gefeiert“, sagt Beate Runge. „Das wird mein erstes Silvester mit Familie.“
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